Zum 25. Todestag: Für immer unvergessen – RIO REISER!
“Das alles und noch viel mehr, würd' ich machen... wenn ich König von Deutschland wär'....“ – Zeilen wie diese haben ihn bekannt, ja, berühmt gemacht. Und bis heute unvergessen. Die Rede ist natürlich von Rio Reiser, einem der größten Pop-Poeten, die man hierzulande gehört hat (und noch immer hört). Vor 25 Jahren verstarb der unnachahmliche Sänger, Songwriter, Lyriker und Schauspieler. Er wurde nur 46 Jahre alt. Eine Erinnerung.
“König von Deutschland“, “Für immer und dich“, “Alles Lüge“, “Blinder Passagier“, “Junimond“, all diese Songs haben seit Mitte der 1980er nichts an Aktualität und Relevanz eingebüßt, über all die Jahre nicht. Auch dank der wirklich berührenden Texte: “Ich seh' dich kommen/ Aber du gehst vorbei/ Doch jetzt tut's nicht mehr weh/ Nee, jetzt tut's nicht mehr weh/ Und alles bleibt stumm
/ Und kein Sturm kommt auf/ Wenn ich dich seh'...“ (aus: “Junimond“). Oder: “Die Wolken ziehn/ Von West nach Ost/ Ich lieg im Bett/ Und denk an dich/ Und wie es früher war/ Zauberland ist abgebrannt/ Und brennt noch/ Irgendwo/ Zauberland ist abgebrannt/ Und brennt noch/ Lichterloh...“ (aus: “Zauberland“)
BEI ROCK GEHT ES UM EKSTASE!
“Wenn es bei Rockmusik um etwas geht, dann um Ekstase“, das war seine Devise. Und Rio lebte sie ein Leben lang. Auch politisch engagierte er sich – angefangen bei seiner Politrock-Band Ton Steine Scherben (1970 bis 1985). Immer wieder äußerte er sich kritisch, hatte schnell einen Ruf weg als “Paradebeispiel eines Revoluzzers und Anarchos“. In der linken Hausbesetzer-Szene ist das Lied “Rauch-Haus-Song“, wegen der Zeilen “Ihr kriegt uns hier nicht raus! Das ist unser Haus!“ zum Klassiker geworden und wird von Punk-Bands immer noch gecovert. Passend: 1995 spielte Rio, der Mime, in der Münchener Tatort-Folge “Im Herzen Eiszeit“ selbst einen ex-Hausbesetzer, der sich nach Jahren im Knast in einer für ihn fremd gewordenen Welt zurechtfinden muss. Für den Film hatte Rio den melancholisch anmutenden Song “Träume“ komponiert: “Träume verweh'n/ wenn sie nicht wissen, wo sie schlafen sollen/ Und bevor der Tag kommt, zieh'n sie mit dem Wind davon...“ Ja, auch als Schauspieler überzeugte der Multitalentierte, auf Leinwand wie auf der Theaterbühne: Gleich für seine erste Rolle im Roadmovie “Johnny West“ wurde er 1977 mit dem Bundesfilmpreis in Gold ausgezeichnet. Der Film erhielt das Prädikat “wertvoll“. Rio spielt darin einen introvertierten Jungen namens Hans-Michael Westerfeld, genannt „Johnny West“, der von nichts anderem träumt, als aus dem öden Alltag auszubrechen und als Rockmusiker Karriere zu machen. Rio selbst lebt diesen Traum, er verfolgt ihn beharrlich.
Zur Welt kommt er am 9. Januar 1950 als Ralph Christian Möbius in West-Berlin. Sein Vater Herbert, von Beruf Ingenieur bei Siemens, wird beruflich immer wieder versetzt. So wächst Rio zunächst in Berlin auf, zieht dann mit der Familie, zu der auch die älteren Brüder Peter (1941-2020) und Gert (heute 78) gehören, nach Traunreut in Oberbayern, Nürnberg, Brühl bei Mannheim, Fellbach bei Stuttgart und Rodgau/Nieder-Roden in der Nähe von Frankfurt/Main. Keiner dieser Orte soll für ihn jedoch “zu Hause“ gewesen sein, heißt es, und mit der Flucht in die Musik versucht er, den Verlust von Heimat zu kompensieren. In Nürnberg besucht er das Melanchton-Gymnasium, bricht die Schule aber vorzeitig ab. Bei einem Fotografen in Offenbach, die Familie war inzwischen ins nahe Nieder-Roden umgezogen, macht er stattdessen eine Ausbildung, die er allerdings auch nicht beendet. Quasi nebenbei hat sich der leidenschaftliche Beatles- und Stones-Fan als Autodidakt Cello, Gitarre und Klavier beigebracht. Und wird zu Rio Reiser. Der Künstlername? “Rio“ ruft ihn ein Freund, “Reiser“ rührt von der Hauptfigur des mehrteiligen psychologischen Romans “Anton Reiser“ von Karl Philipp Moritz aus dem Jahre 1785. Um 1970, mit 20, hat Rio sein Coming-out und lebt nun offen als Homosexueller. Ein mutiger Schritt zu damaligen Zeit. Doch erst ab 1986 nimmt er auch öffentlich, etwa in Talkshows, dazu Stellung.
RIO KANN ES AUCH ALLEINE!
Bereits 1966 steigt Rio auf Anfrage von Gitarrist R.P.S. Lanrue (bürgerlich: Ralph Peter Steitz, ebenfalls Jahrgang 1950) bei den Beat Kings, einer Beat-Band aus Nieder-Roden, ein. In den späten Sechzigern kehrt Rio nach West-Berlin zurück, lebt in Kreuzberg. Mit seinen Brüdern ruft er zunächst die Theatergruppe Hoffmanns Comic Theater ins Leben. Dann gründet er mit seinem Freund Seitz die Band Ton Steine Scherben, die in jenem bereits erwähnten, besetzten „Rauch-Haus“ spielt. Im September 1970 tritt die Band beim “Love And Peace“-Festival auf der Ostseeinsel Fehmarn auf, bei dem Jimi Hendrix das letzte Konzert seines Lebens gibt. Die erste TSS-LP "Warum geht es mir so dreckig" erscheint. Ihre Lieder sind in jener Zeit der gewaltfreie Gegenpol zum brutalen RAF-Terror. Doch 1975 “flieht“ die Band, die sich als “Jukebox der Linken“ (Zitat) missbraucht sieht, aus Berlin, jener “Stadt der verlorenen Seelen“, wie Rio die “Mauerstadt“ zeitweise bezeichnet. Es geht raus aufs Land, weit weg, auf ein Gehöft in Fresenhagen, einem Ortsteil der Gemeinde Stadum, Nordfriesland. Einheimische beobachten den Bauernhof damals, im “deutschen Herbst“, zu Baader-Meinhof-Fahndungszeiten, misstrauisch als möglichen “Terroristenunterschlupf“. Dabei ist es eher das Gegenteil: ein Ort der Kreativität, mit eigens eingerichtetem Tonstudio. Doch 1985 wird die Band nach internen Querelen aufgelöst. Bereits 1983 gibt Rio ein erstes Solokonzert, am Klavier spielt er Stücke von Marlene Dietrich und den Rolling Stones, wird umjubelt.
1986 startet Rio Reiser solo durch, auf eigene Faust, with a little help from his friends. “Rio I.“, sein Solo-Debüt, produziert “Ideal“-erweise die großartige Annette Humpe (Ideal, Ich + Ich). Das Album war lange vorbereitet worden und baut teils auf Demotracks auf, die die “Scherben“ für eine mögliche weitere LP aufgenommen hatten. Jetzt helfen Rio befreundete Musiker, etwa aus der Peter-Maffay-Band (Drummer Curt Cress, Basser Ken Taylor) und die Einstürzenden Neubauten und unterstützen ihn im Studio. Rios wichtigste und beste Nummern finden sich auf seinem Debütwerk: “König von Deutschland“, “Junimond“, “Alles Lüge“, “Für immer und dich“, “Dr. Sommer“ oder “Ich leb doch“. Interessant: Seine Texte sind plötzlich nicht mehr rüde und aggressiv, sondern bestechen durch beißende, teils feine Ironie, wie Der Spiegel damals bemerkt. Und die feministische Zeitschrift Emma frech: „Rio I. enthält mit 'Laß uns das Ding drehen' die schönste Aufforderung zu strafbaren Handlungen.“
EIN ECHTES ORIGINAL!
Die wichtigste Erkenntnis jedoch: Rio kann es auch alleine, ohne feste Band. Er ist ein echtes Original. Ein mutiger, rebellischer und gefühliger “Volkssänger“, der glaubhaft Rock wie “vernünftige“ Schlager singen kann. Sein politisches Engagement hält an. Im Juli 1986 rockt Rio mit einer Allstar-Band (Grönemeyer, Tote Hosen, Herwig Mitteregger von Spliff, Rodgau Monotones, Purple Schulz) vor über 100.000 Zuschauern auf dem Anti-WAAhnsinns-Festival im bayerischen Burglengenfeld zur Unterstützung der Proteste gegen die geplante Wiederaufbereitungs-Anlage im benachbarten Wackersdorf. Als letzte Zugabe bringt Rio beim “deutschen Woodstock“ allein am Klavier Judy Garlands Musical-Klassiker “Somewhere over the Rainbow“, jenes Lied über den Traum von einer heilen, friedlichen Welt. Eine Utopie?
Im Buch “Rio Reiser - Halt dich an deiner Liebe fest“ (Aufbau Verlag) erinnert sich Gert Möbius, heute Drehbuchautor, an seinen berühmten Bruder: “Mit der Studentenrevolte der 68er hatte er wenig am Hut. Lange Haare, Kiffen und Schwulsein war besonders bei den dogmatischen, linken sogenannten 'K-Gruppen' seinerzeit 'völlig inopportunes bourgeoises Gehabe'“. Rio war zwischen künstlerischem Anspruch und den kommerziellen Erwartungen der Musikindustrie hin- und hergerissen. Viele Linke nahmen ihm seine spätere Popularität übel. Gert Möbius, der auch einige Songs mitschrieb, weiter: „Die Lieder waren zum Großteil gar nicht für die Studentenbewegung gedacht. Das hätten wir auch gar nicht machen können, wir waren keine Studenten.“ Auch ein “Pausenclown der Grünen“, so sagte er, wollte er nie sein. Die Frage war: “Wie bekommt man eine Platte hin, die die Linken akzeptieren und die trotzdem die breite Masse, für die sie ja eigentlich gemacht wurde, erreicht?“ Einige Ton-Steine-Scherben-Anhänger wenden sich nach den kommerziellen Soloerfolgen von Reiser ab, werfen ihm “Ausverkauf“ vor. Reiser jedoch läßt das kalt. Sein überliefertes Zitat dazu: “Es gibt Schlimmeres als eine Kunsthure zu sein.“ Rio bleibt dennoch zeitlebens ein Rebell, einer der “ersten deutschen Rock’n’Roll-Heroes“, der teilweise wie ein “zerbrechlicher Iggy Pop“ wirkt. Er gilt als einer der bedeutendsten Musikpoeten der Bundesrepublik, seine Lieder sind ein Stück deutsche Kulturgeschichte.
Sein Tod am 20. August 1996 mit nur 46 Jahren kommt völlig überraschend, auch wenn er gesundheitlich angeschlagen gewesen sein soll. Rio war wohl seit längerer Zeit geplagt von Selbstzweifeln, Depressionen, Einsamkeit, der Alkohol hatte Spuren hinterlassen. Sein Bruder erinnert sich: “'Es ist niemand neben mir', hatte Rio geklagt, eine ewige Angst, nicht geliebt zu werden, inmitten wechselnder Männerfreundschaften. 'Verhungert auf der Suche nach Liebe', wünschte er sich in dunklen Tagen als Grabinschrift, fügte dann jedoch relativierend hinzu: 'Aber es gibt schon genug Menschen, auf deren Grabstein man das schreiben kann'...“ Beigesetzt wird Rio Reiser unter großer Anteilnahme zunächst in seiner Wahlheimat Fresenhagen. Heide Simonis, die damalige schleswig-holsteinische Ministerpräsidentin, verfügt persönlich, dass Rio auf dem Privatgrundstück beigesetzt werden darf. 2011 muss Gert Möbius das Anwesen in Nordfriesland verkaufen und läßt die sterblichen Überreste seines jüngeren Bruders nach Berlin umbetten, auf den Alten St. Matthäus-Kirchhof in Schöneberg. In jener Kirche war Rio 1950 als Ralph Christian Möbius getauft worden.
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