Was ist cool? Im Wesentlichen geht es bei Coolness um das, was als nächstes passieren wird. In der Populärkultur umfasst das, was passieren wird, ein Spektrum aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: das, was bald passieren wird, kann cool sein und das, was vor langer Zeit passiert ist, kann ebenso cool sein. Angewandt auf Musik bietet diese Zeitlosigkeit nicht viel Freiraum für Diskussionen - mit wenigen Ausnahmen wird das, was einmal cool war, für immer cool sein.
Seit fast sechs Jahrzehnten verkörpert Miles Davis alles, was cool ist - in seiner Musik (und ganz besonders im Jazz), in seiner Kunst, seiner Mode, in seinem Liebesleben und in seiner internationalen, wenn nicht intergalaktischen Präsenz, die heute noch so stark glänzt wie zu allen Zeiten. Das Jahr 2006 - das Jahr, in dem Miles Davis am 13. März seinen Platz in der Rock And Roll Hall of Fame einnahm - war ein historisches Jahr, in dem sich seine Geburt am 26. Mai 1926 zum 80sten Mal und sein Tod am 28. September 1991 zum 15ten Mal jährten. Zwischen diesen zwei Daten liegt mehr als ein halbes Jahrhundert der Brillanz - oft voller Wut und auf brutale Weise ehrlich zu sich selbst und anderen, kompromisslos auf eine Art, die über reine Intuition weit hinausgeht.
Bei der Ausführung dessen, was immer wie eine Mission schien, hielt sich Miles Dewey Davis III - Musiker, Komponist, Arrangeur, Produzent und Band-Leader - immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort auf - ein weiteres, entscheidendes Merkmal für Coolness. Miles wurde in Alton, Illinois geboren und wuchs in East St. Louis auf, wo sein Vater als Zahnarzt arbeitete. Im Alter von 13 Jahren bekam er seine erste Trompete. Als Wunderkind perfektionierte er seinen Umgang mit dem Instrument schnell, als er unter den Einfluss von älteren Jazz-Musikern wie Clark Terry, Charlie Parker, Dizzy Gillespie, Billy Eckstine und anderen geriet. 1944 wurde er an der Juilliard School aufgenommen. Das Studium dort war für ihn allerdings eher ein Vorwand um nach New York zu kommen, wo er sich mit Bird und Diz zusammenschliessen wollte. Miles war 18. Cool.
Innerhalb eines Jahres erreichte er sein Ziel. Auf Aufnahmen unter der Leitung von Parker, die 1945 (mit Max Roach), '46 (mit Bud Powell), '47 (mit Duke Jordan und J.J. Johnson) und '48 (mit John Lewis) auf Savoy erschienen, war er bereits zu hören. 1947 gaben die Miles Davis Allstars (mit Bird, Roach, Lewis und Nelson Boyd) ihr Debüt auf Savoy. Während der Zeit, die er in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre auf der 52nd Street verbrachte, gelangte er ins Umfeld von Bebop-Musikern, deren Ruhm er noch teilen sollte, bevor er 25 Jahre alt war.
Mit dem Anbruch des neuen Jahrzehnts leitete Miles 1950 seine ersten kleinen Gruppen. Eine Zusammenarbeit mit Gerry Mulligan und Arrangeur Gil Evans brachte das Album The Birth of the Cool (Capitol) hervor - als Teil einer Bewegung, die die Vorherrschaft von Bebop und Hard-Bop in Frage stellte. Nachfolgende Alben, die unter Miles Leitung in den frühen 50ern (zunächst auf Blue Note, dann auf Prestige) entstanden, halfen dabei, Sonny Rollins, Jackie McLean, Horace Silver und Percy Heath neben vielen anderen bekannt zu machen, und brachten Miles den Ruf als erstklassiger Jazz-Talentsucher ein, der ihn für den Rest seiner Karriere begleitete.
Ein historischer Auftritt beim Newport Jazz Festival 1955 führte dazu, dass George Avakian Miles bei Columbia Records unter Vertrag nahm. Für die Aufnahmen an Round About Midnight stellte Miles mit John Coltrane, Red Garland, Paul Chambers und Philly Joe Jones sein "First Great Quintet" zusammen. Die dreissig Jahre, die Miles mit einem der langfristigsten Exklusivverträge in der Geschichte des Jazz bei Columbia verbrachte, umspannten nicht weniger als ein halbes Dutzend unterschiedlicher Generationswechsel in der Musik - von denen nahezu alle von Miles oder seinen ehemaligen Mitstreitern vorbereitet oder angeführt wurden.
Im Verlauf dieser 30 Jahre wurde die gemeinsame Arbeit mit Miles zu einer Art Sprungbrett ins "Who is who" der Jazz-Musiker. Kind Of Blue, das unangezweifelt coolste Jazz-Album aller Zeiten, wurde 1959 mit der zweiten Besetzung von Miles "First Great Quintet" aufgenommen - mit dabei: Coltrane, Chambers, Cannonball Adderley, Bill Evans und Jimmy Cobb, deren Zusammenarbeit noch bis ins Jahr 1961 reichte.
Nach einer Reihe von kurzfristigen Umbesetzungen (zu denen Grössen wie Hank Mobley, Wynton Kelly, Victor Feldman und George Coleman gehörten), wuchs Miles "Second Great Quintet" langsam zusammen und bestand schliesslich aus Wayne Shorter, Herbie Hancock, Ron Carter und Tony Williams (der 17 Jahre alt war, als er sich Miles anschloss). Durch gemeinsame Aufnahmen mit dem Produzenten Teo Macero und Touren, die sie bis ins Jahr 1968 in alle Teile der Welt führten, erlebten sie sowohl künstlerisch als auch kommerziell einen Erfolg, den es bis dahin im Modern Jazz noch nicht gegeben hatte.
1968 war ein Jahr der Umwälzung und der grundlegenden Veränderungen für Miles und für Amerika, ein Jahr des politischen Umbruchs - die Eskalation des Krieges in Südostasien, die Ermordungen von Martin Luther King und Robert Kennedy und der Aufstieg der "Black Power"-Bewegung gehörten zu den Faktoren, die Miles Musik mehr in die Richtung eines eindringlicheren, elektrisch verstärkten Sounds bewegten. Zur gleichen Zeit griff Miles das Tremolo auf, das er in der Musik von James Brown, Jimi Hendrix und Sly Stone gehört hatte. Was 1968 langsam begann, als Miles Quintett dazu überging, elektrische Piano- und Gitarrensounds einzuführen, weitete sich auf der bahnbrechenden 1969er Doppel-LP Bitches Brew zu einem absoluten Rock-Band-Sound aus. Das Album brachte Miles auf die Titelseite des Rolling Stone - als erster Jazzmusiker, der jemals auf der Titelseite des Magazins abgebildet wurde. Sehr cool.
Den Kern auf Bitches Brew - die Aufnahmen fanden eine Woche nach dem Woodstock Festival 1969 statt - bildete die kleine Gruppe, die als "Third Great Quintet" bekannt wurde: Shorter, Chick Corea, Dave Holland und Jack DeJohnette, unterstützt von John McLaughlin, Larry Young, Joe Zawinul, Bennie Maupin, Steve Grossman, Billy Cobham, Lenny White, Don Alias, Airto Moreira, Harvey Brooks sowie den ehemaligen Quintett-Mitgliedern Hancock und Carter.
Sechs Monate später, im Februar 1970 begann Miles mit den Aufnahmen für das Album A Tribute to Jack Johnson und schloss sich dafür im Laufe der nächsten zwei Monate wiederum mit vielen dieser Musiker sowie Sonny Sharrock, Steve Grossman, Michael Henderson, Keith Jarrett und anderen zusammen. Zweifellos war die Fusion von Jazz und Rock mit voller Kraft auf den Weg gebracht und Miles Geist setzte sich auch in den drei herausragenden Bands durch, die während der gesamten 70er Jahre und darüber hinaus - genau wie er - die Bühnen von Fillmore East und Fillmore West (und andere) rockten: Weather Report, Return To Forever und das Mahavishnu Orchestra.
Sein freier Lebensstil und seine energiegeladenen Abstecher in Funk- und R&B-Grooves fielen in den frühen 70ern mit seinem verschlechterten Gesundheitszustand zusammen. 1975, nachdem er im Sommer sein letztes Konzert im Rahmen des New York's Central Park Music Festivals gegeben hatte, zog sich Miles schliesslich zurück. Eine Reihe von Live-LPs (aus Amerika und Japan) und weiteres Archivmaterial aus den 50er und 60er Jahren wurden in den folgenden fünf Jahren veröffentlicht, um die Lücke zu schliessen.
Auch in den 80er Jahren blieb Miles Ruf als aussergewöhnlicher Talentsucher unangetastet. Stärker als je zuvor tauchte er 1981 mit The Man With The Horn wieder auf - mit einer erstklassigen Besetzung von jungen Musikern: Mike Stern, Marcus Miller, Bill Evans (nicht zu verwechseln mit dem Pianisten aus dem "First Great Quintet"), Al Foster und Mino Cinelu, die im Anschluss allesamt erfolgreiche Karrieren machten. Es war Miles erstes Album seit Bitches Brew, das es in die Top 50 der Billboard Album Charts schaffte. Für das Nachfolgewerk, die Doppel-LP We Want Miles aus dem Jahr 1982, wurde die Band live aufgenommen. Die Besetzung blieb - unterstützt von John Scofield - auch für das 1983er Album Star People gleich. Für Decoy aus dem Jahr 1984 gab es dann einige Um- und Neubesetzungen: Miller wurde von Daryll 'Munch' Jones ersetzt, Robert Irving III kam am Synthesizer und für die Programmierung dazu und Branford Marsalis teilte die Saxophon-Einsätze mit Evans.
1985 erschien unter dem kryptischen Titel You're Under Arrest Miles letztes Album bei Columbia Records. (Wieder) mit dabei war Miles Neffe Vince Wilburn (er hatte schon einen kurzen Auftritt auf The Man With the Horn). Bob Berg trat in die grossen Fussstapfen von Evans und Marsalis. Auf dem Album spielte Miles erstmals seine Versionen von zwei Balladen, die für den Rest seiner Karriere feste Grössen bei allen Auftritten bildeten: Michael Jacksons "Human Nature" und Cyndi Laupers "Time After Time".
Im darauffolgenden Jahr begann Miles für Warner Bros. aufzunehmen. Die produktive Periode brachte jedes Jahr ein neues Album hervor (die ersten vier gemeinsam mit Marcus Miller produziert): Tutu (1986), Music From Siesta (1987, eine Zusammenarbeit mit Miller für einen Filmsoundtrack), Live Around the World (1988), Amandla (1989), Dingo (1990, eine orchestrale Zusammenarbeit mit Michel Legrand) und sein letztes Studioalbum, das von Hip-Hop beeinflusste Werk Doo-Bop (1991), dessen Titelsong Miles 1992 einen posthumen Rap/R&B-Single-Hit bescherte.
"Miles Dewey Davis III - Trompeter, Visionär und ewiger Modernist - war eine Naturgewalt", schrieb Ashley Kahn (der Autor von Kind Of Blue: The Making Of the Miles Davis Masterpiece, Da Capo, 2000; deutsche Version: Kind Of Blue: Die Entstehung eines Meisterwerks, Rogner & Bernhard, 2002) zu Ehren von Miles Aufnahme in die Rock And Roll Hall Of Fame. "Mit einem Ohr, das Stil-Kategorien ignorierte, war er auf der Suche nach neuen musikalischen Welten und Generationen traten in seine Fussstapfen. Während die schöpferische Kraft und die Experimentierfreudigkeit, die die meisten Musiker in ihrer Jugend erleben, in der Regel abnimmt, hat Davis sich seinen Entdeckergeist für den grössten Teil seiner 65 Jahre bewahrt. Es musste frisch sein, andernfalls konnte man es vergessen."
1996, 5 Jahre nach seinem Tod, veröffentlichte Columbia/Legacy das erste Deluxe Box Set der "Miles Davis Serie", die 6-CD Box Miles Davis & Gil Evans: The Complete Columbia Studio Recordings. Es folgten weitere 7, alle sämtlich von der Kritik hochgelobt:
Miles Davis & Gil Evans: The Complete Columbia Studio Recordings (veröffentlicht in 1996), 6-CD Box. Grammy Awards für "Best Historical Album", "Best Album Notes" sowie "Best Recording Package".
Miles Davis Quintet 1965-'68: The Complete Columbia Studio Recordings (February 1998), 6-CD Box. Grammy Award für "Best Album Notes".Grammy für "Best Boxed Recording Package"
Miles Davis & John Coltrane: The Complete Columbia Recordings 1955-1961 (Feb 2000), 6-CD Box.
Grammy Awards für "Best Boxed Recording Package" und "Best Album Notes".
The Complete In A Silent Way Sessions (September 2001), 3-CD Box.
The Complete Jack Johnson Sessions (August 2003), 5-CD Box
Grammy Award für "Best Boxed Or Special Limited Edition Package"
Seven Steps: The Complete Columbia Recordings Of Miles Davis 1963-1964 (August 2004), 7-CD Box.
The Cellar Door Sessions 1970 (September 2005), 6-CD Box.
Seit 1997 wurden zudem alle wichtigen Miles Davis Alben remastered und liebevoll ausgestattet, viele davon mit Bonus Material 'Round About Midnight (1957), Miles Ahead (1957), Porgy and Bess (1958), Milestones (1958), Miles Davis At Newport (1958), Jazz At The Plaza (1958), Kind Of Blue (1959), Sketches Of Spain (1960), Someday My Prince Will Come (1961), Miles Davis at Carnegie Hall - The Complete Concert (1961), In Person: Friday Night At the Blackhawk (1961), In Person: Saturday Night At the Blackhawk (1961), Quiet Nights (1962), Seven Steps To Heaven (1963), Miles Davis In Europe (1963), Miles In Tokyo (1964), Miles In Berlin (1964), My Funny Valentine (1965), E.S.P. (1965), Miles Smiles (1966), Four & More (1966), Sorcerer (1967), Nefertiti (1967), Miles In the Sky (1968), In A Silent Way (1969), Filles De Kilimanjaro (1969), Bitches Brew (1970), A Tribute To Jack Johnson (1971), On the Corner (1972), Big Fun (1974), Get Up With It (1974), Water Babies (1976), Aura (1985).
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